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Gregorianischer Choral an St. Laurentius

Das Kirchenjahr im gregorianischen Choral

Die Sonn- und Feiertage im Kirchenjahr

Die Fastenzeit

Der lateinische Ausdruck für die Fastenzeit, Quadragesima, bedeutet ursprünglich: der 40. Tag vor dem Fest, konkret vor dem Osterfest. Doch wurde er dann auf den gesamten Zeitraum von 40 Tagen vor Ostern angewandt. Für die Zahl 40 können mehrere biblische Vorbilder angeführt werden: die 40 Jahre der Wanderung Israels durch die Wüste, die 40 Tage, die Mose vor dem Bundesschluss auf dem Berg Sinai zubrachte, die 40 Tage der Wanderung des Propheten Elia zum Berg Horeb und nicht zuletzt das 40-tägige Fasten Jesu in der Wüste.
Erste Spuren eines Fastens vor dem christlichen Osterfest führen ins 2. Jh. n. Chr. zurück: Durch ein zweitägiges Trauerfasten bereitete sich die christliche Gemeinde auf die Feier von Leiden, Sterben und Auferstehung Christi vor, die zu dieser Frühzeit in ein und derselben Nacht, der Osternacht, begangen wurde. Eine 40-tägige Fastenzeit als Vorbereitung auf Ostern ist erst seit dem 4. Jh. bezeugt, jener Epoche, in der das Gedächtnis des Leidens und Sterbens Jesu aus dem Kontext der Osternacht herausgelöst wurde und sich zu einer eigenen liturgischen Feier am Freitag vor Ostern, dem Karfreitag, verselbstständigte.
Die 40 Tage Fastenzeit vor dem Osterfest umfassten ursprünglich den Zeitraum vom 6. Sonntag vor Ostern, dem nachmaligen Ersten Fastensonntag, bis zum Donnerstag vor Karfreitag, dem Gründonnerstag. Da jedoch die Sonntage von der Fastenpraxis ausgenommen wurden, man aber andererseits an der Zahl 40 festhalten wollte, suchte man im 5. Jh. nach einem Ersatz für die fehlenden Tage. So rechnete man nun auch den Freitag und Samstag vor Ostern, die ohnehin seit alters durch ein vorösterliches Trauerfasten geprägt waren, der Quadragesima zu und verlegte deren Beginn vom Ersten Fastensonntag auf den Mittwoch davor, den nachmaligen Aschermittwoch.

Inhaltlich waren diese 40 Tage in der christlichen Antike nicht nur durch strenges körperliches Fasten, d. h. den weitgehenden Verzicht auf Speise und Trank, gekennzeichnet, sondern auch - und dies sogar in erster Linie - durch die Unterweisung der Taufbewerber im christlichen Glauben und ihre schrittweise Hinführung zu den Initiationssakramenten in der Osternacht sowie durch die Kirchenbuße der von den Sakramenten ausgeschlossenen („exkommunizierten") Sünder bis zu deren Rekonziliation (Wiederversöhnung) und Wiederaufnahme in die eucharistische Gemeinschaft am Gründonnerstag. Die christliche Gemeinde solidarisierte sich mit beiden Gruppen, indem sie sich auf die Fundamente ihres Lebens als getaufte Christen besann sowie die Bereitschaft zu Umkehr und Buße erneuerte, um ein Leben als österliche Menschen zu führen.
Die erneuerte Liturgie nach dem Zweiten Vatikanum greift diese Gedanken auf und fügt ihnen noch eine soziale Komponente hinzu, indem sie der Intensivierung christlicher Nächstenliebe große Bedeutung beimisst. Allgegenwärtig ist aber auch hier die Ausrichtung auf das nahende Osterfest, was nicht zuletzt in der heute gebräuchlichen Bezeichnung „Österliche Bußzeit" statt oder neben „Fastenzeit" zum Ausdruck kommt.

aus: Johannes Bergmans Göschl: Das Kirchenjahr Im Gregorianischen Choral, EOS St. Ottilien, 2021, S. 85f

Fünfter Fastensonntag (Passionssonntag)

Introitus

Bis zur nachkonziliaren Reform der Messe und des liturgischen Jahres war dieser Sonntag unter dem Namen „Passionssonntag" bekannt. Mit ihm begann, nach viereinhalb Wochen Fastenzeit, die eigentliche Passionszeit. So war denn die Liturgie dieses Sonntags von Themen bestimmt, die mehr und mehr den Blick auf den Entscheidungskampf zwischen Jesus und seinen Gegnern und seine bevorstehende Passion lenkten. Dies besonders in den beiden bis zur Liturgiereform vorgeschriebenen Lesungen (Hebr 9,11-15; Joh 8,46-59). Im Vorgriff auf das Gedächtnis des bevorstehenden Leidens und Sterbens Jesu und als Zeichen der Trauer darüber wurden mit diesem Sonntag Altarkreuz und Altarbilder mit dunklen Tüchern verhängt, und am Ende von Psalmen, auch im Introitus der Messe, entfiel das „Gloria Patri" (Ehre sei dem Vater...). „Dominica de Passione Domini" (Sonntag vom Leiden des Herrn), diese Bezeichnung findet sich bereits in der einen oder anderen der ältesten Handschriften des Gregorianischen Chorals, so im Graduale von Compiègne (einer Texthandschrift der 2. Hälfte des 9. Jhs.) und im Codex Einsiedeln 121 (2. Hälfte des 10. Jhs.), während in anderen Handschriften dieser Frühzeit, wie z. B. im Cantatorium St. Gallen 359 (ca. 920) und in Laon 239 (ca. 930), die Überschrift „Dominica V in Quadragesima" (5. Sonntag in der Fastenzeit) bzw. nur „Dominica V" (5. Sonntag) anzutreffen ist.
Mit der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanum und vor allem der damit verbundenen Änderung der Ordnung der biblischen Lesungen in der Messe hat sich auch der Charakter dieses Sonntags etwas verändert. Nicht mehr nur das bevorstehende Leiden Jesu steht jetzt im Vordergrund. Ebenso ist es der Aufruf zu Umkehr und Neuanfang bzw. die Einladung, sich auf die vergebende Liebe Gottes einzulassen, die stärkere Betonung erfahren und damit eine gewisse Kontinuität zu den Themen der vorausgegangenen viereinhalb Wochen Fastenzeit herstellen. Daraus erklärt sich, warum bei der Neuordnung des Kirchenjahres der Bezeichnung "Fünfter Fastensonntag" der Vorzug gegeben wurde.
Dennoch ist nicht zu übersehen, dass auch die bevorstehende Passion Jesu, deren man in der Karwoche gedenkt, bereits in der Liturgie dieses Sonntags ihre Schatten vorauswirft. Hinweise auf die Thematik Tod und Auferstehung gibt es auch in der erneuerten Ordnung der biblischen Lesungen dieses Sonntags mehr als genug, so z. B. im Evangeliumsbericht über die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-45) im Lesejahr A, in der Bildrede Jesu vom Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt (Joh 12,21f) im Lesejahr B oder in den Worten des Apostels Paulus im Lesejahr C, in denen er der Hoffnung Ausdruck verleiht, an Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Anteil zu erhalten (Phil 3,10f).

Was die Propriumsgesänge der Messe dieses Sonntags betrifft, wurde durch die nachkonziliare Neuordnung nur eine einzige Änderung, nämlich bei der Communio, vorgenommen: Die ursprünglich für diesen Sonntag vorgesehene Communio Hoc corpus, die inhaltlich auf das Geschehen des Letzten Abendmahls verweist und deshalb der Messe des Letzten Abendmahls am Gründonnerstag zugeordnet wurde, ist nun ersetzt durch drei Gesänge, die auf die jeweiligen Evangeliumsabschnitte der drei Lesejahre Bezug nehmen.
Alle übrigen Propriumsgesänge dieser Sonntagsmesse wurden aus der vorkonziliaren Ordnung übernommen. Sie zeichnen sich teilweise durch einen zur Dramatik tendierenden Duktus aus, dies sowohl textlich als auch kompositorisch. So gleicht der zweite Satz des Introitus Iudica me Deus („ab homine iniquo et doloso eripe me" - vom ungerechten und hinterhältigen Menschen befreie mich) einem Hilfeschrei aus höchster Not.
aus: Johannes Bergmans Göschl: Das Kirchenjahr Im Gregorianischen Choral, EOS St. Ottilien, 2021, S. 109f

Iudica me, Deus,
et discerne causam meam de gente non sancta :
ab homine iniquo et doloso eripe me :
quia tu es Deus meus,
et fortitudo mea.

Verschaff mir Recht, o Gott,
und führe meine Sache gegen ein treuloses Volk!
Rette mich vor bösen und tückischen Menschen,
denn du bist mein Gott
und meine Kraft.

Ps.  1

Emitte lucem tuam, et veritatem tuam:
ipsa me deduxerunt,
et adduxerunt in montem sanctum tuum.

Sende dein Licht und deine Wahrheit,
dass sie mich leiten,
mich bringen zu deinem heiligen Berg.
https://gregorien.info/chant/id/4666/0/de

Sie können diesen Choral hören:

https://www.youtube.com/watch?v=WREhPUnq56w  (Solo mit Quadratnotation)

https://www.youtube.com/watch?v=eH8Cq9idw7s&list=OLAK5uy_mMKsjxKdSWkYdppNWnk7-yQCcXWTyxWNg&index=17  (Schola)

Vierter Fastensonntag

Introitus

Die Besonderheit der Messe des Vierten Fastensonntags scheint bereits beim ersten Wort des Introitus Laetare Ierusalem (Freue dich, Jerusalem!) auf. Aber nicht nur der Introitus, sondern das gesamte Messformular dieses Sonntags ist von der Vorfreude auf Ostern geprägt.
Der insgesamt freudige Charakter dieser Messe drückt sich auch in der für sie seit dem Mittelalter vorgesehenen, heute nicht mehr verbindlich vorgeschriebenen liturgischen Farbe rosa (statt violett) aus. Sie geht vermutlich auf ein Frühlingsfest zurück, für das man als Symbol eine kostbare Rose verwendete. Ein besonderes Motiv der diesen Sonntag kennzeichnenden freudigen Stimmung ist dann auch in der Tatsache zu sehen, dass mit dem Ritus der „Öffnung der Ohren" am darauffolgenden Mittwoch eines der wesentlichen Elemente der Taufspendung in der Osternacht schon vorweggenommen wurde, womit ohne Zweifel eine Steigerung freudiger Erwartungshaltung auf das nahende Osterfest verbunden war.
Die Gesänge entsprechen dem herkömmlichen Messproprium dieses Sonntags, sofern man das traditionelle Offertorium Laudate Dominum und die traditionelle Communio Ierusalem, quae aedificatur zu singen hat und nicht das Offertorium Illumina und die Communio Oportet te fili gaudere oder die Communio Lutum fecit, die dann vorgesehen sind, wenn das Evangelium vom verlorenen Sohn (und barmherzigen Vater) bzw. das Evangelium von der Heilung des Blindgeborenen trifft.
Der festliche und geradezu fröhliche Introitus Laetare Ierusalem überrascht gleich zu Beginn mit einer ganz ungewöhnlichen Intonation. Befragt man hierzu die mittelalterlichen Quellen des Gregorianischen Chorals, kommt man unwillkürlich zu der Überzeugung, dass es sich eigentlich nicht um eine Intonationsformel, sondern um eine Kadenzformel handelt, und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit um ein bewusstes Zitat der Schlusswendung des Alleluia mit Vers Confitemini der Osternacht. Erneut ist darin - ähnlich wie im Introitus Invocabit me des Ersten Fastensonntags bei der Textstelle „et glorificabo eum" - ein kräftiger Hinweis auf Ostern zu sehen.   [...]
Das große Thema der gregorianischen Gesangstexte des Vierten Fastensonntags kristallisiert sich somit in dem Eigennamen „Jerusalem" und allem, was sich hinter diesem Namen in jüdischem oder christlichem Verständnis verbirgt. Dies drückt sich nicht zuletzt in der Wahl der römischen Stationskirche dieses Sonntags aus: Santa Croce in Gerusalemme (Kirche zum Heiligen Kreuz in Jerusalem).
„Jerusalem" bedeutet Stadt des Heiles und des Friedens. Heil und Friede ist die Verheißung dieses Sonntags, mit Blick auf Ostern, das Fest, welches schlechthin dem Menschen Heil und Frieden schenkt.
Und in dieser Verheißung ist denn letztlich auch die Freude begründet, die alle Gesangstexte des Vierten Fastensonntags, des Sonntags
„Laetare", durchzieht.
aus: Johannes Bergmans Göschl: Das Kirchenjahr Im Gregorianischen Choral, EOS St. Ottilien, 2021, S. 102ff

Laetare Ierusalem:
et conventum facite omnes qui diligitis eam :
gaudete cum laetitia,
qui in tristitia fuistis:
ut exsultetis,
et satiemini ab uberibus consolationis vestrae.

Freue dich, Stadt Jerusalem!
Kommt zusammen, alle, die ihr sie liebt.
Seid fröhlich, freut euch,
die ihr traurig wart.
Freut euch
und trinkt euch satt an den Brüsten eurer Tröstung.

Ps.  1

Laetatus sum in his quae dicta sunt mihi:
in domum Domini ibimus.

Ich freute mich, als man mir sagte:
„Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern".

https://gregorien.info/chant/id/4799/0/de


Sie können den Choral hören:

https://www.youtube.com/watch?v=IXhIPtK9ABc  (Solo mit Quadratnotation)

https://www.youtube.com/watch?v=0oI7Eqg9Jfg  (Schola)

 

Dritter Fastensonntag

Introitus

Mit dem Dritten Fastensonntag begannen in der christlichen Antike die näheren Vorbereitungen zur Taufe in der Osternacht. Von jetzt an wurden die Taufbewerber sog. Skrutinien unterzogen, d. h. Befragungen zu Themen des Glaubens und Prüfungen ihrer geistigen und sittlichen Reife, verbunden mit Exorzismen. Letztere sind wohl auch als der entscheidende Grund anzusehen, warum für diesen Sonntag in vorkonziliarer Zeit - und dies seit alters her - die Evangeliumsperikope von einer Teufelsaustreibung durch Jesus aus Lk 11,14-28 vorgesehen war. Ein tieferer Bezug zur Situation der Taufbewerber bestand in vorkonziliarer Zeit wohl auch in der Auswahl der Epistel aus Eph 5,1-9 mit ihrer zentralen Aufforderung: „Wandelt als Kinder des Lichtes!" In diesem Sinne können nicht zuletzt auch die Propriumsgesänge dieser Messe verstanden werden, deren Texte zum Teil - im Introitus, Graduale und Tractus - vom Vertrauen auf die rettende Heilstat Gottes in Not und Bedrängnis sprechen, zum anderen Teil - im Offertorium und in der Communio - von der Freude und dem Glück derer, die durch Gott gerettet wurden und nun den Segen eines Lebens nach den Geboten Gottes (Offertorium) im Hause Gottes (Communio) erfahren dürfen. All dies ist beispielhaft Wirklichkeit geworden im Leben und Sterben des heiligen Märtyrers Laurentius, in dessen Kirche vor den Mauern Roms seit alter Zeit der Stationsgottesdienst dieses Sonntags stattfindet.
Das aktuelle Messproprium des Dritten Fastensonntags ist identisch mit jenem, das schon in den ältesten gregorianischen Handschriften seit dem 8. Jh für diesen Sonntag verzeichnet bzw. wiedergegeben ist. Der Introitus Oculi mei bringt gleich zu Beginn das ausdrucksstarke Bild der sehnsüchtig und vertrauensvoll auf Gott gerichteten Augen, unterstützt durch eine vom ersten zum zweiten Ton steil aufragende Melodiebewegung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht iedoch das Wort „semper", auf das die gesamte Intonationspassage hinzielt: unablässig, unverwandt sind meine Augenauf den Herrn gerichtet. Der folgende Halbsatz: „quia ipse evellet de laqueo pedes meos" (denn er selbst zieht meine Füße aus der Schlinge) enthält bei dem Wort „evellet" den strahlenden Höhepunkt des gesamten Stückes. Hier wird der Grund genannt, der die vertrauensvolle Ausrichtung auf Gott rechtfertigt: das befreiende, heilschaffende Eingreifen Gottes. - Dominieren in diesem ersten Satz Vertrauen, Jubel und Lobpreis, so tritt mit dem zweiten Satz ein plötzlicher Stimmungswandel ein, was sich in der musikalischen Ausgestaltung sehr deutlich durch das Absenken der modalen Strukturstufe bis zum Schluss ausdrückt. Im Vordergrund steht hier die Bitte um Erbarmen und Hilfe aus einer beklagenswerten Situation. So halten sich in diesem Gesang zwei Grundhaltungen des Menschen Gott gegenüber die Waage: Vertrauen, Lobpreis und Dank auf der einen Seite, demütige Bitte im Bewusstsein der eigenen Schwäche auf der anderen Seite.
aus: Johannes Bergmans Göschl: Das Kirchenjahr Im Gregorianischen Choral, EOS St. Ottilien, 2021, S. 97f

 

Oculi mei semper ad Dominum,
quia ipse evellet de laqueo pedes meos:
respice in me, et miserere mei,
quoniam unicus et pauper sum ego.

Meine Augen schauen stets auf den Herrn;
denn er befreit meine Füße aus dem Netz.
Wende dich zu mir und sei mir gnädig,
denn ich bin einsam und gebeugt.

Ps.  1

Ad te, Domine, levavi animam meam:
Deus meus, in te confido,
non erubescam.

Zu dir, Herr, erhob ich meine Seele.
Mein Gott, auf dich vertraue ich.
Lass mich nicht zuschanden werden.

https://gregorien.info/chant/id/5897/0/de

Sie können diesen Choral hören:

https://www.youtube.com/watch?v=Q5m0jfYH5CQ  (Solo mit Quadratnotation)

https://www.youtube.com/watch?v=7poV3v_8O7c   (Schola)

Zweiter Fastensonntag

Introitus

Die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanum hat tiefgreifende Einschnitte in das Gesangsproprium der Messe des Zweiten Fastensonntags vorgenommen. Von den im Graduale Romanum von 1908 für diesen Sonntag vorgesehenen Gesängen ist noch das Offertorium Meditabor übrig geblieben, und der herkömmliche Introitus Reminiscere wird noch fakultativ als Alternative zum Introitus Tibi dixit cor meum angeboten. Das Graduale Tribulationes wurde ersetzt durch das Graduale Sciant gentes, der Tractus Confitemini durch den Tractus Commovisti - letzterer Gesang stammt (wie auch Graduale Sciant gentes) aus dem Proprium des abgeschafften Sonntags Sexagesima -, die Communio Intellege schließlich durch die Communio Visionem vom Fest der Verklärung Christi am 6. August. Der ursprüngliche Ort für den Introitus Tibi dixit cor meum ist die Messe des Dienstags nach dem Zweiten Fastensonntag. Die beiden letzteren Gesänge, Introitus Tibi dixit cor meum und Communio Visionem, verdanken ihren neuen liturgischen Ort der Evangeliumsperikope von der Verklärung Christi, die für diesen Sonntag in allen drei Lesejahren nach den drei synoptischen Berichten vorgesehen ist. Die Hereinnahme des Graduale Sciant gentes und des Tractus Commovisti in das Proprium des Zweiten Fastensonntags dürfte wohl dem Bestreben zuzuschreiben sein, mit ihnen zwei prominente Gesänge der nun nicht mehr existierenden Vorfastenzeit an einem anderen geeigneten Ort unterzubringen. Die zwei dadurch verdrängten Gesänge - wie auch der Introitus Reminiscere und die ersetzte Communio Intellege - sind ja noch für einen anderen Tag der Fastenzeit bzw. Karwoche vorgesehen.
Aber nicht erst in unserer Zeit, sondern bereits seit der ausgehenden Antike war die Messe des Zweiten Fastensonntags einer bemerkenswerten Fluktuation unterworfen. So war es spätestens seit dem 6. Jh. üblich, die vier Quatemberwochen des Jahres und somit auch die Quatemberwoche im Frühling zwischen Erstem und Zweitem Fastensonntag mit einer Messfeier in der Nacht von Samstag auf Sonntag zu beenden, was dazu führte, dass die Messe am Sonntag, so auch am zweiten Fastensonntag, entfiel. „Dominica vacat" lautet deshalb die Eintragung in vielen gregorianischen Handschriften bis hinauf ins 10./11. Jh., und dies, obwohl spätestens im 9. Jh. alle Sonntage nach den Quatemberwochen wieder eine eigene Messe hatten.
Für das Proprium dieser vier Sonntagsmessen hat man allerdings keine neuen Gesänge komponiert, sondern auf bereits bestehende ältere Gesänge zurückgegriffen, im Fall des Zweiten Fastensonntags auf jene des Mittwochs der vorausgehenden Quatemberwoche.
Der Introitus Tibi dixit cor meum, der im Zuge der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanum diesem Sonntag zugeteilt wurde, lässt gleich zu Beginn durch seine mehrtönige, rhythmisch subtil differenzierte Unisono-Bewegung auf der Endsilbe von „dixit" aufhorchen.
Hier handelt es sich um eine von den Schöpfern der gregorianischen Gesänge bewusst eingesetzte Formel, der wir bereits im Offertorium Reges Tharsis von Epiphanie begegnet sind und die in den sechs Fällen ihres Vorkommens stets als Hinweis auf eine überdimensionale Wirklichkeit, in unserem Fall wohl als Ausdruck mystischer Versenkung und liebender Hingabe in der Schau des Antlitzes Gottes ("vultum tuum" - "faciem tuam"), verstanden werden will.
Der herkömmliche Introitus Reminiscere konnte, wie bereits gesagt, als Alternative zum Introitus Tibi dixit cor meum seinen angestammten Platz in dieser Sonntagsmesse behaupten, vielleicht auch mit Rücksicht darauf, dass er in der Evangelischen Kirche bis zum heutigen Tag als Namensgeber dieses Sonntags fungiert. Sein Text aus Ps 24/25 erinnert den Gott Israels an die Taten seiner Barmherzigkeit seit Ewigkeit und verbindet damit die Bitte um Befreiung aus gegenwärtigen Bedrängnissen. Der in diesem Text ausgedrückten demütigen und vertrauensvollen Haltung des Beters entspricht eine extrem schlichte Melodieführung, die sich nur wenig vom Grundton mi des IV. Modus erhebt und dennoch, aufgrund einer permanenten Oszillation im Halbtonbereich mi-fa, von einer gewissen spannungsvollen Dichte geprägt ist.
aus: Johannes Bergmans Göschl: Das Kirchenjahr Im Gregorianischen Choral, EOS St. Ottilien, 2021, S. 92f

Tibi dixit cor meum,
quaesivi vultum tuum,
vultum tuum Domine requiram :
ne avertas faciem tuam a me.

Mein Herz denkt an dein Wort:
Dein Angesicht habe ich gesucht!
Dein Angesicht, Herr, will ich suchen.
Wende dein Gesicht nicht ab von mir.

Ps.  1

Dominus illuminatio mea et salus mea:
quem timebo ?

Der Herr ist mein Licht und mein Heil:
Vor wem sollte ich mich fürchten?

https://gregorien.info/chant/id/8111/0/de

Sie können diesen Choral hören:

https://www.youtube.com/watch?v=RnUz0Qju9uM   (Solo mit Quadratnotation))

https://www.youtube.com/watch?v=8Cpk4ONn5Mo  (Schola)

Erster Fastensonntag

Graduale

Die Propriumsgesänge der Messe des Ersten Fastensonntags zeichnen sich in textlicher Hinsicht durch einen betont einheitlichen Charakter aus. In der Tat sind die Gesangstexte dieser Messe ausnahmslos Ps 90/9I „Qui habitat in adiutorio Altissimi" (Wer unter dem Beistand des Höchsten wohnt) entnommen. Mit seiner Botschaft, dass der Mensch in all seinen Lebenslagen und gerade auch in Not und Drangsal nicht allein, sondern in Gottes wirkmächtiger Nähe geborgen ist, wenn er sich vertrauensvoll an sie wendet, ist dieser Psalm gewissermaßen der Psalm der Fastenzeit schlechthin. Seine ausdrucksstarken, auf die schützende Gegenwart Gottes verweisenden Bilder „Scapulis suis obumbrabit tibi" - „sub pennis eius sperabis" (Mit seinen Schultern spendet er dir Schatten - unter seinen Flügeln wirst du Hoffnung schöpfen) sind denn auch zu Leitmotiven geworden, die die Liturgie der gesamten Fastenzeit - und dort vor allem im Stundengebet - Tag für Tag begleiten.
Ohne Zweifel steht die Ausnahmestellung von Ps 90/91 für das Messproprium des Ersten Fastensonntags in einem inneren und ursächlichen Zusammenhang mit der für diesen Sonntag seit ältester Zeit vorgesehenen Evangeliumsperikope von der Versuchung Jesu in der Wüste (Mt 4,І-11), derzufolge der Satan Jesus auffordert, sich von den Zinnen des Tempels zu stürzen, und als Motiv dafür die Verse II und 12 von Ps 90/91 zitiert: „Denn er hat seinen Engeln deinetwegen geboten, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Auf ihren Händen werden sie dich tragen, damit du deinen Fuß niemals an einen Stein stößt"
Letztere Verse des Psalms bilden denn auch die textliche Grundlage für das Graduale Angelis suis. Der vertrauensvollen Grundstimmung dieses Textes kommt die Verwendung der Typusmelodie der Gradualien im II. Modus mit ihren hellen Klangfarben und seiner tröstlich und befreit dahinfließenden Melodik sehr entgegen.

aus: Johannes Bergmans Göschl: Das Kirchenjahr Im Gregorianischen Choral, EOS St. Ottilien, 2021, S. 86f

Graduale

Angelis suis mandavit de te,
ut custodiant te in omnibus viis tuis;
In manibus portabunt te,
ne umquam offendas ad lapidem pedem tuum.

Er hat seinen Engeln befohlen,
dich zu behüten auf all deinen Wegen.
Sie werden dich auf ihren Händen tragen,
damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.

Vers.  1

In manibus portabunt te,
ne unquam offendas ad lapidem pedem tuum.

Auf ihren Händen werden sie dich tragen,
damit dein Fuß nie an einen Stein stößt.

https://gregorien.info/chant/id/490/0/de

Sie können den Choral hören:

https://www.youtube.com/watch?v=yGIJdxJeXaY   (Solo mit Quadratnotation)

https://www.youtube.com/watch?v=VfpFLnXfZ2c   (Schola)